Der französische Hochgeschwindigkeitszug Thalys fährt neuerdings vom hiesigen Bahnhof nach Paris. Frühmorgens hin, abends zurück und dazwischen ganze acht Stunden Aufenthalt. Ich wollte ausprobieren, ob sich auch in dieser kurzen Zeit besonders authentische Facetten der französischen Metropole jenseits Montmartre, Eiffelturm und Champs Élysées entdecken lassen. Das geht am besten mit einem einheimischen Begleiter, und genau das bietet die ehrenamtliche Organisation „Paris Greeters“. Man kann sich Spaziergängen anschließen, um Paris abseits der Touristenpfade zu entdecken. Ich meldete mich an und kurz vor der Reise bekam ich die Bestätigung: “7. Mai 2012, 11:00 Uhr, Métro-Station St-Germain des Prés. Ich habe viel Zeit. Bis bald, Christiane.“
Durch St-Germain des Prés
Pünktlich erreicht der Thalys Paris. Heller Sonnenschein umfängt mich, als ich aus dem Bahnhofsgebäude trete. Schattenspendende Bäume, eine Métro-Station im Jugendstil-Design, wuselnder Verkehr auf der Rue de Dunkerque. Vor dem Restaurant Terminus Nord rücken Kellner Stühle auf der Terrasse zurecht, Straßenkehrer fegen die Rinnsteine, es riecht nach Frühling und irgendwie Französisch – ich bin in Paris! Über ausgetretene Stufen steige ich hinunter in die Métro, folge den gelb gefliesten Gängen zum Bahnsteig und nehme die Linie M4. Es ist Punkt elf Uhr. Christiane erwartet mich schon und das Besichtigungsprogramm beginnt gleich an Ort und Stelle.
Sie zeigt weit in die Runde. Überall ringsum diese typischen grauen Haussmann-Gebäude. Vier, fünf Stockwerke hoch, schmale Fenster und umlaufende schmiedeeiserne Balkone, so prägen die historisierenden Bauten das Stadtbild. Nachdem Christiane mir die Feinheiten der Architektur erläutert hat, eilen wir weiter an der Abtei St-Germain des Prés vorbei und die Rue de l’Abbaye entlang. Hundert Meter vom hektischen Boulevard St-Germain entfernt befindet man sich hier in einer beschaulichen Welt. Kleinstädtisch anmutende Häuser mit schiefen Giebeln und kleinen Dächern liegen im Sonnenlicht. Doch auf dem Idyll liegt der Schatten der Revolution. Hier muss es gewesen sein, wo 1792 während der Septembermassaker die Insassen des Gefängnisses von St-Germain-des-Prés zu Hunderten vom wild gewordenen Mob ermordet wurden.
In der schmalen, belebten Rue de Buci reihen sich Bistros und kleine Spezialitätengeschäfte dicht an dicht. Die Bürgersteige sind zu Café-Terrassen umfunktioniert und liegen im Schatten tief herunter gezogener bunter Markisen. Christiane hat eine offene Pforte entdeckt und winkt mich durch eine Toreinfahrt mit hohen Randsteinen in einen Hinterhof. Ringsum Stillleben aus Schrubbern und Eimern zwischen Trögen mit Hortensien und Dattelpalmen. Aus der abgeschotteten Hinterhofatmosphäre fällt der Blick über Regenrohre und Aschentonnen auf den Durchgang zur Rue de Buci, hinter dem die Betriebsamkeit des Sträßchens pulsiert.
Passagen, Höfe und das älteste Bistro von Paris
Beim Übergang in die Rue Saint-André des Arts liegt verborgen im Halbdunkel der Eingang in eine überdachte Passage. Wir treten ein und ich bin plötzlich mitten im 18. Jahrhundert, und zwar im Cours du Commerce Saint-André. Seit 1735 existiert diese Verbindung zum Boulevard Saint-Germain mit ihren kleinen Läden und Bistros. Stöckelschuhe sind hier unangebracht, so gewölbt und ausgewaschen ist das Kopfsteinpflaster aus klobigen, abgenutzten Steinen. Eines der Bistros ist das Le Procope, das allerälteste Bistro von ganz Paris, eröffnet 1686. Christiane möchte mit mir hinein, aber der Eingang hier im Gässchen ist geschlossen. Wir werden später den Haupteingang suchen, denn als wir uns umdrehen, gibt es wieder etwas zu entdecken. Ein großes Tor gewährt Blick auf einen lichtdurchfluteten Platz. Hintereinander gestaffelt reihen sich hier gleich drei Höfe aneinander, die Cours de Rohan. Es sind heute private Wohnhäuser, aber das Tor ist bis auf sonntags und die Abendstunden geöffnet und ein Blick in die Höfe durchaus erlaubt.
Nach ein paar Metern hat der Boulevard Saint-Germain uns wieder. Einmal ums Eck in die Rue de l’Ancienne Comédie und wir stehen vor dem Haupteingang des Le Procope. Ich folge Christiane hinein. Ein Labyrinth aus Fluren und steilen Holztreppen führt zu kleinen Salons, die im Stil des 17. Jahrhunderts eingerichtet sind. Jeder ist einem der berühmten Gäste gewidmet, denn hier gaben sich die Intellektuellen ihrer Zeit die Klinke in die Hand: Voltaire, Rousseau, Robespierre, Marat, Balzac, Hugo, Benjamin Franklin und Anatole France tauschten hier ihre Ansichten aus.
Ein separat hängender Bilderrahmen aus fein ziseliertem Holz zieht meinen Blick auf sich, der Teil eines alten Briefes ist zu sehen. Eine schöne Handschrift, mit der Feder sorgfältig auf das Papier gesetzt:
Mon Dieu! Avez pitié de moi!
Mes yeux n’ont plus des larmes
Pour pleurer pour vous mes pauvres
enfants; adieu, adieu!
Mein Gott! Habt Mitleid mit mir!
Meine Augen haben keine Tränen mehr
um für euch zu weinen, meine armen Kinder;
auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!
Und darunter schwungvoll die Unterschrift: Marie Antoinette. Es sind ihre letzten niedergeschriebenen Worte, frühmorgens eine halbe Stunde nach Verkündung ihres Todesurteils in der Arrestzelle zu Papier gebracht. Noch am selben Tag trat sie den Gang zum Schafott an. Ich bin ergriffen und in dem stillen Raum scheint es auf einmal noch ruhiger zu sein. Wir begeben uns wieder nach unten, vorbei am Schreibtisch Voltaires und einer Vitrine mit dem Zweispitz Napoleons. Das Sonnenlicht flutet durch die Fenster und die ersten Gäste kommen uns entgegen.
Nach dem Ausflug in die Historie hat uns die Gegenwart wieder. Das nächste Ziel ist einer von Christianes Lieblingsplätzen: die Place Saint Sulpice. Zugegeben, nach der frühen Zugfahrt und den fast drei Stunden Pflastertreten bin ich ein wenig erschöpft und froh, dort auf einer der Bänke eine kleine Pause einlegen zu können. Um die langen Fußmärsche abzukürzen nehmen wir dann ein paar Stationen mit dem Bus zum Boulevard Saint-Michel. Schnell erreichen wir hier einen kleinen Platz. Wasserspiele plätschern in einem modernen Brunnen, ein paar Bäume spenden Schatten. Wir sind auf der Place de la Sorbonne und essen in einem der Bistros mit den einladenden Terrassen eine Kleinigkeit.
Ein Blick in die Sorbonne
So gestärkt wollen wir jetzt einen Blick in die ehrwürdigen Hallen der Sorbonne, der ältesten Universität von Paris werfen. Christiane geht auf eine der Pforten zu, vor der sich zwei Wachleute in blauen Uniformen postiert haben. Um herein zu kommen sind ihr alter Dienstausweis und diplomatisches Geschick gefragt. Ein weitläufiger Innenhof empfängt uns. Die ockergelben Fassaden der majestätischen Gebäude ringsum leuchten in der Sonne. Als wir durch eine schmale Tür eintreten, riecht es nach einer Mischung aus Muff und Bohnerwachs, der typische Geruch alter Amtsgebäude. Und so ähnlich sieht es auch aus. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Marmorgeflieste schmale Korridore und an den Wänden hellbraune Holzvertäfelungen. Als wir auf der ausgetretenen Holztreppe in den ersten Stock hinauf gehen, kommt mir das Knarzen der Stufen in der Stille besonders laut vor. Ich trete vorsichtiger auf. Christiane möchte mir einen der Hörsäle zeigen, doch leider sind sie alle verschlossen. Eilig kommt uns eine Mitarbeiterin entgegen und wir bekommen die Erklärung, warum es hier heute so leer und so vieles verschlossen ist: es ist der Tag, an dem die Examensarbeiten geschrieben werden. Am Ende des Flures befindet sich eine Holztür mit einem kleinen ovalen Fenster. Christiane schaut vorsichtig durch und nickt mir zu. Ich gucke auch. Ein kleiner Klassenraum, im dämmrigen Licht sind spartanische Holztische und einfache Stühle zu erkennen. Und ein paar Studenten, die hochkonzentriert vor ihren Examensarbeiten sitzen und nun verwundert-irritiert zu uns zurückschauen. Ich fühle mich ertappt und wende mich schnell ab, freue mich aber über diesen Augenblick französischen Alltagsleben, an dem ich teilhaben durfte.
Länger halten wir uns nicht in der Sorbonne auf, denn als nächstes steht noch der Jardin du Luxembourg auf dem Programm. Schloss und Park wurden um 1610 für Maria von Medici angelegt, fast zeitgleich zu ihrer Krönung als Regentin Frankreichs. Allerdings war ihr die Freude an dem prächtigen Landsitz mit dem 26 Hektar großen Park nicht lange vergönnt, denn schon einige Jahre später wurde sie aus Paris verbannt. Zu lange hatte sie ihrem Sohn Ludwig XIII die Regentschaft versagt, bis dieser sich schließlich gegen sie durchsetzen konnte. Wir haben nur Zeit für eine Stippvisite und laufen zum Grand Bassin hinauf, einem achteckigen Teich direkt vor dem Palais du Luxembourg. Alles ist weitläufig und symmetrisch im italienisch-französischen Stil angelegt. Der Blick schweift über Terrassen mit hellen Brüstungen. Breite Wege sind als Sichtachsen angelegt. Großzügige Rasenflächen und bunte Blumenrabatten schmeicheln dem Auge. Palmen in großen Holzkübeln verbreiten mediterranes Flair. Hier flaniert ganz Paris und entspannt sich auf den grünen, schmiedeeisernen Stühlen.
Hauptsehenswürdigkeiten zum Abschluss:Jardin du Luxembourg und der Louvre
Die meisten Rasenflächen dürfen nicht betreten werden und schon gar nicht darf man die Beine in das Wasserbecken hängen. Eines ist allerdings erlaubt und gerne gesehen – womöglich ist es sogar der Hauptgrund für die Existenz des Grand Bassin. Seit jeher stupsen Kinder, Eltern und Großeltern mit langen Stöcken kleine, zum Teil kunstvoll gebaute Bötchen hingebungsvoll im flachen Teich herum. Für den nötigen Seegang sorgt die hohe Fontäne in der Mitte des Beckens. Christiane schaut auf die Uhr, wir müssen weiter. Der Weg schlängelt sich nun zwischen kleinen Bäumen hindurch. Einige Studenten sitzen hier und diskutieren, ein Maler ist in sein Skizzenbuch vertieft. Und nach der nächsten Wegbiegung stehen wir im Schatten unter hohen Bäumen vor dem grottenähnlichen Brunnen Fontaine Médicis. Was für ein idyllisches, fast verwunschenes Plätzchen. Es ist frisch und riecht nach Wasser. Der dunkle Weiher wird oft für Kunstinstallationen genutzt, aber heute gehört er ganz den verhalten schnatternden Enten. Auf dem schmalen Weg ringsum mangelt es nicht an Stühlen und sie sind gut besucht. Man sitzt einfach da, döst ein wenig und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.
Zum Abschluss unseres Spaziergangs darf nun doch eine Pariser Berühmtheit nicht fehlen: Christiane möchte mir noch den Louvre zeigen. Zu Fuß wäre es vom Jardin du Luxembourg zu weit und so nehmen wir erneut den Bus. Wieder durchqueren wir auf dem Weg zur Haltestelle ein Viertel mit kleinen, malerischen Sträßchen. Sogar einige der einst für St. Germain so typischen Antiquariate haben sich hier gehalten, wenn auch viele inzwischen durch Nobelboutiquen ersetzt sind. Die Bushaltestelle befindet sich auf dem Quai de Montebello gegenüber von Notre Dame und so kann ich doch noch einen Blick auf die Seine und die berühmt Kirche werfen. Wir fahren bis zur Pont du Carrousel, die breite Brücke führt uns durch das mächtige Torgebäude direkt in den Louvre. Die gläserne Pyramide wirkt leicht und auflockernd inmitten des strengen Gebäudekarrees. Ganze Besuchergruppen nehmen vor ihr Aufstellung und posieren für ein Erinnerungsfoto. Auf dem sonnigen Platz ist Leben, die Stimmung heiter und beschwingt.
Acht Stunden Paris neigen sich jetzt dem Ende zu. Der Tag war so intensiv, als hätte ich in Paris einen Kurzurlaub verbracht und Christiane ist mir ans Herz gewachsen wie eine Freundin. Wir trinken noch etwas zusammen, dann muss Christiane auf einmal schnell weg. Ich nehme die Métro zurück zum Gare du Nord. Auf die Minute pünktlich rollt der Thalys mit mir aus dem Bahnhof. Adieu Paris, ich komme wieder!
Noch etwas Werbung in eigener Sache:
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Hallo Herr Perrefort,
ich habe Ihnen dazu eine E-Mail geschrieben 🙂
Schönen Gruß
Susanne Edion
Hallo Frau Edion
Kann man Ihre sehr schönen Bilder auf einer privaten Homepage nutzen?
Gruß
Bernard Perrefort